In einem Interview mit „Le Monde“ blickte Dieter Kosslick vor einigen Tagen mächtig stolz auf Wettbewerb voraus: Dieses Jahr habe man ihn für junge Filmemacher geöffnet, deren künstlerische Ansprüche noch viel höher seien. Nach dem entmutigenden ersten Wochenende fragt man sich mit Les McCann, welchen Vergleichswert er denn da im Kopf hatte?
Und war ihm nicht bewusst, welch unwiderstehliche Metapher er den Journalisten gleich selbst in den Mund legt mit den drei bedauernswerten Figuren, die bis zum Sonntagnachmittag in einer Bärenfalle verenden mussten? Es war wohl wiederum ein Fehler, mich auf die Hauptsektion zu konzentrieren. Er ist auch der Grund, weshalb ich als Blogger bislang gefaulenzt habe: Ich fand schlicht zu wenig Berichtens- und Bedenkenswertes. (Weshalb ich mich nun eines Besseren besonnen habe, erfahren sie im nächsten Eintrag.) Die Freuden, die das Programm bis Sonntag bereithielt, waren vereinzelte oder solche, gegen die ich im nächsten Augenblick Einspruch erheben muss. Der polnische Beitrag „ W Imie…“ geht mir nicht ganz aus dem Kopf, der Darsteller des schwulen Priesters nimmt mich sehr ein für die Art, wie er mit Anfechtungen ringen muss. In der Kreuzigungshaltung sieht man ihn so oft wie sonst nur die Helden bei Scorsese. An der Last katholischer Symbolik trägt der Film ohnehin schwer: Warum muss der Priester Adam heißen und die vergebliche Verführerin Ewa? An Ulrich Seidls Trilogieabschlussfilm „Hoffnung“ verblüffte mich die Sanftheit, ja Barmherzigkeit des Blicks auf seine Charaktere. Aber nach einer Stunde ist alles auserzählt, keine Anstrengung wird sichtbar, den Figuren noch eine Entwicklung oder ihrer Situation eine Wendung zu geben. Die Barmherzigkeit nehme ich also besser zurück.
Tatsächlich zielen meine Einwände wesentlich auf dramaturgische Schwächen. Der polnische Film beispielsweise hat drei Enden, weil er aus den Augen verloren hat, wessen Drama er erzählen will. Als guter Treuhänder des Schicksals seiner Charaktere hat sich bislang noch kaum ein Filmemacher erwiesen. Der russische Beitrag endet etwas ratlos in einem Massaker, ohne dass die sich Bahn brechende Gewaltbereitschaft im Charakter des Bauern angelegt wäre. (Immerhin, um sich für das Richtige – gegen den Ausverkauf des Landes, für die Kooperative – zu entscheiden, braucht er eingangs nur eine Minute, womit er rund 100 Minuten schneller ist als Matt Damon bei Gus van Sant.) Nach Thomas Arslans erfreulichem Ausflug ins Kriminalfilmgenre („Im Schatten“) hätte man durchaus Erwartungen setzen können in seine Western-Eskapade „Gold“. Obwohl die Reise lang ist, will er den Schritt zum Erzählen dann aber doch nur sporadisch vollziehen. Im Grunde macht er hier immer noch das Gleiche wie in „Der schöne Tag“: Er schau zu, wie leidlich uncharismatische Figuren den Bildraum durchmessen. Daran ändert auch die Abzählreim-Logik des Drehbuches wenig, an dessen Ende natürlich nur die unverwüstliche Nina Hoss übrigbleibt. Allmählich läuft sie Gefahr, zur Zarah Leander der Berliner Schule zu werden. Die moderne Frau ist in „Gold“ eine Behauptung, ein Rollenmodell, dem es an Relief und Glaubwürdigkeit gebricht. Ist das Gerede von den „starken“ Frauen vielleicht nur Opportunismus von Regisseuren die glauben, ihren Darstellerinnen und Fernsehredakteurinnen schmeicheln zu müssen? Patrick Orths Tableaus der kanadischen Landschaft sind allerdings majestätisch. Arslan und er habe sich nicht einfach nur überwältigen lassen von dem Vorgefundenen, sondern das Verlorensein geschickt kadriert.
Eine schöne dramaturgische Bewegung vollzieht allerdings „La Religieuse“, als die Novizin zunächst das Gelübde nicht ablegen will: Unvermutet schürt der Film die Hoffnung, Suzanne Simonin könnte den Martyrien entgehen, die das Klosterleben für sie bereithält. Die Unausweichlichkeit scheint für einen Moment außer Kraft gesetzt. Und dennoch sieht man dem Nachfolgenden bang und mit aufgeklärter Paranoia entgegen. Dass Isabelle Huppert die lesbische Oberin so ratlos als Karikatur anlegt, hätte man sich freilich nicht träumen lassen. Da ging es auf dieser zweiten Station von Suzanne Simonins Kreuzweg bei Rivette und Lieselotte Pulver doch fröhlicher zu.
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