Kinder. Wie die Zeit vergeht

Vor einigen Tagen gelang es mir auf einem Empfang, den Dokumentarfilmer Thomas Heise in ein Gespräch zu verwickeln, das für ihn ohne Zweifel weniger aufschlussreich war als für mich. Wir sprachen über die trügerische Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit, die Festivals generieren. Der Vermutung, dass viele Filme bereits ihr annähernd gesamtes Publikum auf einem Festival finden, schien ihn nicht wirklich zu schrecken. Er setzte ihr eine verblüffende, durchaus glaubhafte Langmut entgegen. Dokumentarfilme, meinte er, gewinnen ihre eigentliche Bedeutung erst Jahre, ja Jahrzehnte später. Auf seine eigene Geschichte bezogen, liegt er damit zweifellos richtig. Viele seiner Filme wurden verboten oder lagen lange Zeit auf Eis. Als die deutsche Öffentlichkeit im letzten Herbst aus ihrem Tiefschlaf angesichts rechtextremen Terrors aufwachte, war er plötzlich ein Mann der Stunde. Mit Neonazis und ihrem Umfeld hat er sich beharrlich auseinandergesetzt; nicht zuletzt in „Kinder. Wie die Zeit vergeht“ (nein, dieser großartige Filmtitel hat kein Komma!), wo er geduldig achtsame Innenansichten der rechten Szene eröffnet.

Heises Idee ist ein schönes Korrektiv zur Gegenwartseitelkeit, die bei einem Festival ja besonders grassiert. Es ist gut möglich, dass sein aktueller Film „Die Lage“ in einigen Jahren seine eigentliche Relevanz beweisen wird; nicht nur als Zeitdokument. Während unseres Gesprächs wurde mir klar, wie lang in meiner Wahrnehmung der Papstbesuch in Erfurt und Eichsfeld bereits zurücklag. Das soll im letzten Herbst gewesen sein? Auf Anhieb hätte ich auf das Jahr 2010 getippt. Die Erinnerung  wird mir gewiss auch bei dieser Berlinale noch manchen Streich spielen. Sie ging so schnell vorüber! Das mag damit zusammenhängen, dass etliche  Wettbewerbsbeiträge so gnadenvoll kurz waren. Dadurch wurden es zwar nicht mehr, als in vorangegangenen Jahren (obwohl sich das Verhältnis zwischen den Filmen in und außer Konkurrenz gegenüber dem Vorjahr etwas verbessert hat). Aber die Schlagzahl der erfreulichen Entdeckungen hat sich enorm erhöht. 2012 wird allerorten, und zu Recht, als ein guter Jahrgang gefeiert. Aber wird man ihn so auch wirklich im Gedächtnis behalten? Mir scheint, dass er am Ende ein großer Wettbewerb mit lauter kleinen Filmen gewesen ist. Kein Film ragt heraus, wie es im Vorjahr „Nader und Simin“ und „The Turin Horse“ taten. Den Vergleich zu 2010 kann ich nicht mehr anstellen, da mir bereits entfallen ist, was seinerzeit im Wettbewerb zu sehen war.

So gibt es viele Ungewissheiten und nur wenige unumstößliche Sicherheiten, wenn ich mir nun die Frage stelle, was von 2012 im Gedächtnis bleiben wird. Wahrscheinlich etliche Momente, aber ganze Filme wohl eher nicht. Ohnehin sind es oft atmosphärische Erinnerungen, die sich bei mir festsetzen. Die schwarzweiße, schelmische Exzentrik von „Tabu“ ist da ein Kandidat. Die Stimmung der norwegischen Winterlandschaft in „Gnade“, in der kleine, behaglich warme Lichtpunkte aufleuchten, vielleicht auch. Ich vermute, die Bilder der goldenen Weizenfelder mit dem einsamen Tor aus Wang Quan’ans „White deer plain“, werden vermutlich rascher verblassen (den Platz von Terrence Malicks „Days of Heaven“ können sie ohnehin nicht einnehmen; so sehr sie sich auch anstrengen); die Tableaus der Dorfversammlungen, in denen der Widerstreit zwischen politischen Umwälzungen und atavistischer Tradition in entlarvender Frontalität ausgetragen wird, haben da womöglich bessere Aussichten auf Nachhaltigkeit. Die Berglandschaft aus „Meteora“ und einige der animierten Passagen (allerdings eher die banalen als die allegorischen) werden vielleicht einen Eindruck hinterlassen. Die Wehrhaftigkeit der Roma in „Csak a szel“ hat sich mehr ebenfalls eingeprägt, die Bürgerwehr, die sie nach den Morden aufgestellt haben und der Zorn, der sich in einer Szene in einem Handgemenge entlädt. Gewiss wird mich die Szene aus „L’enfant d’en haut“, in welcher der Junge seine Mutter mit Geld bestechen muss, um sich an sie kuscheln zu dürfen, noch eine Weile heimsuchen. Aber jener Kategorie von Nachhaltigkeit, wie sie Heise aufstellt, genügt am Ehesten wohl die erhabene Melancholie des Endes von „Cesare deve morire“, der Renaissance der Taviani-Brüder, wo die Häftlinge nach der Vorstellung wieder in ihre Zellen zurückkehren. „Seit ich weiß, was Kunst ist“,  sagt der Cäsar-Darsteller, „ist diese Zelle für mich zum Gefängnis geworden.“ Und dann macht er sich daran, einen Espresso zu kochen.

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Eine Antwort auf Kinder. Wie die Zeit vergeht

  1. Lukas sagt:

    Hüte dich vor der Gleichgültigkeit, denn sie ist der Flößer zwischen den Ufern.

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