Retrospektive: Jujiro

Ein großartiger Film, der aus einfacher Konstellation das Maximale an Melodram herausholt und damit das Beispielhafte, Allgemeingültige betont, in einer Weise, die in stilisierter, aber nicht übertriebener Form das parabelhafte Drama entfaltet, das direkt trifft. Kein Wunder, dass „Jujiro“ unter dem Titel „Im Schatten des Yoshiwara“ 1929 begeistert in Deutschland aufgenommen wurde – ist er doch wiederum von deutschen Straßenfilmen beeinflusst, hat doch Regisseur Teinosuke Kinugasa explizit Murnaus „Letzten Mann“ als hauptsächliche Schule seiner eigenen Inszenierungskunst angegeben…

Bruder und Schwester leben zur Miete in einem Zimmer nahe des Vergnügungsviertels Yoshiwara. Dorthin zieht es den Bruder jeden Abend, er ist so verliebt in O-Ume, die schönste Lebedame des Rotlichtbezirks. Blutig geschlagen kehrt er abends von seinen Ausflügen zurück, doch in naiver Liebe glaubt er an O-Umes Treue; während seine diversen Nebenbuhler sich mit ihr vergnügen. Die Schwester, ein fleißiges Mädchen, näht Kimonos, eines dieser Stücke nimmt der Bruder mit als Liebesgabe, doch die Welt ist zu grausam für seine reine, unschuldige und völlig fehlgeleitete Liebe… Währenddessen hat ein Schurke mit Polizeiknüppel, den er zufällig gefunden hat, es auf die Schwester abgesehen, da kommt es gerade recht, dass der Bruder in eine heftige Auseinandersetzung gerät. Dass er erblindet, als ihm sein Widersacher mit Asche bewirft. Dass er zum spöttischen Lachen der Umstehenden blind herumtapst; dass er seinen Feind mit seinem Schwert erschlagen zu haben glaubt… Der vermeintliche Polizist verspricht, ihn zu decken, gegen die Gunst der Schwester – und dieses kleine, heftige Drama inszeniert Kinugasa ganz aufreizend langsam, mit einer zwingenden Unerbittlichkeit nehmen die Dinge ihren Lauf, langsam, aber unaufhaltsam spitzt sich alles zu. Und zwar eingebettet in eine visuelle Kunst, die ihresgleichen sucht: Das Erblinden ist ein Aufblitzen weißer Flecken und Formen auf der Leinwand, verbunden mit kaleidoskopartigen Effekten und schwindelerregendem Bildkreiseln… Doch lassen wir den Experten selbst sprechen, Daisuke Miyao in seinem Text zur Beleuchtung im japanischen Kino ab den 1920er Jahren in der Retrospektive-Publikation Ästhetik der Schatten:

“Auf dem Höhepunkt des Films greift ein Mann, der sich als Polizist ausgibt, die   Schwester an. Der Bruder, der im Zimmer neben an schläft, öffnet plötzlich in einer Nachaufnahme die Augen [seine vorübergehende Erblindung hat sich inzwischen gelegt]. In der nächsten Einstellung, vermutlich seine Perspektive, sieht man ein abstraktes Lichtspiel, das an eine schwimmende Wasseroberfläche erinnert. Darauf folgt ein fahleres Licht, bevor wieder das Gesicht des Bruders in Großaufnahme erscheint, dieses Mal durch einen Scheinwerfer hell erleuchtet. Kurz darauf zeigt eine extrem lange Einstellung des Regens draußen weißlich irisierende Regentropfen, als würden sie den Schein einer andon-Lampre (japanische Papierlampe) reflektieren. Als wieder auf die Schwester zurückgeblendet wird, sieht man die Großaufnahme eines unheilvoll glänzenden debabocho (japanisches Hackmesser) in ihren Händen […]. Als würde er vom Aufblitzen des debabocho angegriffen, stürzt der Bruder die Treppe hinunter. Dieser Fall wird von einem weiteren, leuchtenden Motiv begleitet: die Einstellung eines Eimers, gefüllt mit glitzerndem Regenwasser, der durch sein eigenes Gewicht von einer Mauer stürzt. In dieser Welt voller Helligkeit wird der Bruder mit weit aufgerissenen Augen Zeuge einer Szene, die albtraumhaft ausgeleuchtet ist: Während der falsche Polizist rückwärts zu Boden sinkt, sieht er seine geliebte Schwester mit dem Messer in den Händen. Starkes Seitenlicht, das durch die shoji-Schiebetüren (aus Papier und Holz) fällt, erzeugt zahlreiche, einander kreuzenden Schatten auf ihrem Körper.”

 Ein so langes Zitat sei erlaubt, weil mir nach der einmaligen Sichtung des Filmes unmöglich wäre, so detailliert die Wirkungen (und die Lichtinszenierung) zu  beschreiben; und weil allein die Ausführlichkeit und die Lebendigkeit von Miyaos Schilderung (eine solche gibt es in seinem Essay zu keinem anderen Film) den außergewöhnlichen Stellenwert dieses Werkes herausstellt. Und die Schilderung ist noch nicht vorbei, wir springen aber etwas nach vorne:

“Als würden sie von [dem Schein des Regens] angezogen, flüchten die Geschwister ins Freie, wo sie von blendend weißem Dampf eingehüllt werden – verdunstender Regen und Schweiß von ihren erhitzten Körpern. Im Haar der Schwester glänzen weiße Wassertropfen. Verzweifelt und dem Wahnsinn nahe stürzt der Bruder in Richtung des Vergnügungsviertels Yoshiwara, denn er glaubt, dass dort seine Geliebte auf ihn wartet. […] In diesem so fatal attraktiven Raum voller Licht und Bewegung gerät der Blick des Bruders außer Kontrolle, als er seine Geliebte mit einem anderen Mann entdeckt. Extrem schnelle Schnitte zeigen hintereinander und immer wieder zahlreiche, leuchtende Objekte: sich drehende, weiße Bälle, Schatten auf shoji-Wänden, das bleiche Gesicht der Schwester, Regen, weiße Asche, Blütenblätter und hell erleuchtete Straßenkreuzungen unter Sternen [die im übrigen deutlich in den Himmel gemalt sind]. Der Bruder bedeckt seine Augen vergeblich mit den Händen. Sein Körper bewegt sich vor und zurück, taumelt sogar aus dem Bild-Ausschnitt hinaus, bis er schließlich zu Boden sinkt. Der Bruder wird durch Licht getötet.”

 Einen schöneren Abschluss als dieser Film – und diese Interpretation von Miyao – könnte ich mir für diese Retrospektive kaum vorstellen.

Harald Mühlbeyer

 

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Retrospektive: The Cheat und The Typhoon

Ein Doppelprogramm mit einem Japaner in Hollywood: Sessue Hayakawa ist ein Mann von ebenmäßigen Zügen; in Reginals Barkers „The Typhoon“ wurde er 1914 zum Star, unter Cecil B. DeMille spielte er 1915 in „The Cheat“ („Das Brandmal der Rache“) – beides Filme, die perfekt zueinander passen. Geht es doch jedesmal um Liebe und Verrat, mit Hayakawa mal als Täter, mal als Opfer. Das Ende jeweils ein Gerichtsprozess.

„The Cheat“: Eine Frau gibt das Geld aus, das ihr Mann, Börsenmakler, kaum herbeischaffen kann. Freilich: Wenn dessen Investition in D.&O.-Aktien gelingt… Freilich: Ein Kollege glaubt nicht dran, er setzt auf Kupferaktien, die Frau gibt 10.000 Dollar aus, die sie als Schatzmeisterin fürs Rote Kreuz treuhänderisch verwaltet und die eigentlich als Hilfe zu den Belgiern gehen soll (wäre auch mal interessant: Haben sich die USA charitymäßig in den Ersten Weltkrieg eingebracht, bevor sie richtig involviert waren?)…

Jedenfalls gehen die Kupferaktien den Bach runter, Frauchen hat das Geld des Roten Kreuzes verloren, und es springt der Hausfreund ein, mit dem sie schon lange gesellschaftlichen Umgang pflegt: Und dieser wird von Hayakawa gespielt.

Jetzt ist es bemerkenswert, die Rolle des schurkischen Rivalen mit einem Asiaten zu besetzen. Denn einerseits erfüllt Hayakawa in seiner Rolle alle Klischees des tückischen Schlitzauges, der auch unheimlich böse kucken kann, als er von seiner Chance erfährt, die Verehrte finanziell an sich zu binden: voll Heimtücke nimmt er sie ins Visier mit zusammengekniffenen Augen. Ha, sie wird die meine sein! Und wir wissen, wie er das anstellen wird: Als Kunstsammler markiert er all seine japanischen Gegenstände mit einem Brandstempel…

Und andererseits wird – außer über das Aussehen – nie thematisiert, dass dieser Nebenbuhler, der sich die Frau eines anderen unter den Nagel reißen will, Asiate ist. Es ist ganz normal, mit ihm Umgang zu haben, er ist High Society wie jeder andere auch. Dass er böse ist – das kann jedem passieren.

Ehefrau lässt sich jedenfalls keine Erpressung gefallen, zufällig ist da eine Pistole… Ehemann nimmt die Schuld auf sich, und erst beim Gerichtsverfahren etc.pp. (Alibimäßig sei zu Licht und Schatten erwähnt, dass die Kameraarbeit von Alvin Wyckoff wirklich herausragend ist, schon am Anfang, im dunklen Raum der glühende Kohlentopf, in dem der Japaner sein Brandeisen erhitzt…)

 

„The Typhoon“, der zweite Film des Double Features, war vielleicht eine Art Blaupause für DeMille, ist jedenfalls nicht so schön gefilmt, sondern ziemlich einfach dem Typus des Salondramas zugehörig. Bemerkenswert hier: Dass ganz selbstverständlich angenommen wird, dass diplomatisches Personal grundsätzlich auch Spionagetätigkeiten ausübt; und dass diese zwar in heißem Nationalismus erglühen, dieser aber nicht grundsätzlich als Übel angesehen wird, auch wenn an ihm die ganze dramatische Wendung hängt.

Hayakawa spielt einen japanischen Diplomaten in Paris, der nachrichtendienstliche Informationen sammeln, Statistiken auswerten soll. Eine Geliebte hat er auch, klar, eine leichtlebige Schauspielerin, die wegen seines Geldes ihren vorherigen Verlobten, einen Schriftsteller, hat sitzen lassen. Während der Botschafter diese Liaison gar nicht gerne sieht, schließlich muss das Vaterland und damit die Arbeit im Vordergrund stehen.

Das also die drei Pole; schön gezeichnet das Boheme-Lokal, in dem typischerweise schräge Karikaturen an den Wänden hängen und wo sich das Künstlervolk trifft. Dagegen die Diplomaten, die – ein heute lustig wirkender Effekt – andauernd im Auto vorfahren, sieben zylinderbehutete Anzugsträger im offenen Wagen… Eine Weile weiß man nicht, wohin der Film führen soll, dann wird klar, dass alles an dieser vergnügungssüchtigen Schauspielerin hängt, die dann auch noch im Streit ihren Geliebten und Japan beschimpft: ihn als „whining yellow rat“ und Japan als „dirty yellow blot on the face of the earth“ bezeichnet. Das ist zuviel, er erwürgt sie. Und hat damit eigentlich gar nicht so unrecht…

Schließlich Gerichtsverfahren, und im Namen Nippons wird der wichtige Spion, der die Tat begangen hat, entlastet, indem sich ein unwichtiger Praktikant für die große Sache Japans opfert und die Tat auf sich nimmt… Der Prozess ist weit weniger spannend als bei DeMille gezeichnet, zumal vieles über lange Zwischentitel erklärt wird. Doch die Opferbereitschaft aus nationaler Aufwallung – die wird nicht wirklich in Frage gestellt.

Hayakawa zeigt in diesem Film ein höchst theatralisches Posieren, das er im späteren „The Cheat“ dann doch unterlässt. Ach, wie sehr ist er erschüttert, verdreht die Augen, weicht entsetzt zurück, hält sich schwankend fest – das ist die Art von Spiel, die den Ruf des Stummfilms mit fremdartiger Ästhetik und unfreiwillig komischem Pathos begründet – ein Ruf, der nur in den allerseltensten Fällen wie diesem hier tatsächlich erfüllt wird. Doch das ist eine andere Geschichte, die ein anderes Mal erzählt werden soll.

 

Harald Mühlbeyer

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bettgeflüster

So, das Tablet ist nach einem Besuch beim Service-Center wieder heil, die Benutzerin hatte nur ein Tästchen übersehen, das zum Anschalten des Geräts nicht ganz unwichtig ist. Fast alles in Ordnung also, und ein Tag, der auch sonst von einem Quentchen Glück im letzten Moment geprägt war. So wie der Ozu-Film (Late Autumn), in den ich mich trotz verpasster Straßenbahn im allerletzten Moment doch noch als letzte eingelassene der Warteschlange einschleichen konnte. Immer wieder schön. Und aus der ersten Reihe ganz links ist man nochmal extra froh, daß der Meister sich standhaft dem Breitwandformat verweigert hat.

Ansonsten voll im Berlinale-End-Schnief-und-Hust-Modus, den nach Geräusch-Lage im Kinosaal ein Drittel des Publikums befallen hat. Also wieder mal krankheitshalber den ebenfalls berlinale-end-üblichen Tagesspiegel-Umtrunk geschwänzt.

Die Veranstaltung zur Frauenfilmförderung am Donnerstag früh war erfrischend lebendig und aggressiv, wie nicht nur ich fand. Erst die üblichen Präsentationen und Panels mit Case-Studies und einer schön aggressiven “Intervention” von Jasmila Zbaniç. Und noch während des Panels hatte eine negative Äußerung von Frau Cornelia Hammelmann vom Deutschen Filmförderfonds zur Forderung nach einer Frauenquote im Saal soviel Unmut hervorgerufen, daß sich schon bald am bereitstehenden Saalmikrofon eine lange Schlange von Frauen bildete, die ihrem Unmut laut und zornig Ausdruck verliehen. Hoffentlich wird eine Bewegung draus, die vielleicht wirklich mal etwas für die Frauen verändert. Doch ich habe jetzt schon zwei mal kurz und ausführlich (für den Tagesspigel und die.standard) über die Veranstaltung berichtet, deshalb hier nur der

Link zur Website.

Im Radio (Deutschlandfunk, Rüdiger Suchsland) mal wieder einen Beitrag zur Berlinale gehört, wo die Festival-Sektionen Forum und Panorama (mit jeweils über 50 Filmen!) als “Nebenreihen” abqualifiziert und so mit dem Kiezkino oder dem Indigenous Cinema in einen Topf geworfen werden.

Zum Abschluss auch zwangsweise noch einmal in das überteuerte Schnellrestaurant im Cinemacks-Eck gestrandet (aber aus Trotz ohne Konsum), wo das Berlinale-Fachpublikum komplett verschwunden ist und durch aufgetakelte Russen und Russinnen ersetzt, denen hohe Preise und schlechte Qualität bei ihrem Ausflug an den roten Teppich wohl nichts machen.

So, das war es es wohl (schade, hat mehr Spass gemacht als ins Kino zu gehen….)für dieses Jahr – oder überhaupt, denn wer weiß, wie es mit dem Blog im nächsten Jahr aussehen (und ausgehen) wird.

Bilanz:
- kein mal in Delphi oder Zoo-Palast geschafft
- ein mal in die Retro (eine absolute Novität)
- zwei Wettbewerbsfilme (“Stratos” und den Resnais, der auf recht unterhaltsame Weise bishherige Resnais-Filme kopiert und dafür den Bauer-Preis für künsterische Erneuerung bekommen hat.
- drei Lieblingsfilme gefunden: “Al doilea joc/The second game”, “Casse” und “The Forest is Like the Mountains”, alle Forum

Und: Die Idee mit dem Imbiss-Essen an der frischen Luft statt im Mief des Einkaufszentrums ist (jedenfalls in einem milden Winter wie diesem) eine schöne Idee, die so vollmundige angepriesene Qualität ist aber – jedefalls zu den gesalzenen Preisen – doch eher hochgehyped und so immer noch keine echte Alternative zu Coa und Butter Lindner.

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Erstaune mich!

Es wurde wirklich noch interessant. In einigen Momenten erfüllte die gestrige Preisverleihung tatsächlich jene Forderung, die zu Jean Cocteaus Lebensmotto wurde. Der Goldene Bär für „Bai ri yan huo“ (Black Coal, Thin Ice) wird wohl jeden Beobachter des Festivals erstaunt haben. Die Jury unter James Schamus hat große Unabhängigkeit bewiesen, wenn auch nicht durchweg einen sicheren Geschmack. Stellt die Kameraarbeit in „Tui na“ (Blind Massage) wirklich die herausragende künstlerische Leistung dar? Die Entscheidung ist verständlich (immerhin versucht der Film einen eigensinnigen Umgang als zwei einschlägige Panorama-Beiträge mit dem Problem des Blindseins), aber nicht nachvollziehbar (ästhetisch gelungen war der Versuch nicht). Der Abend hatte einen vielversprechenden Auftakt mit dem Preis für den Beste Erstlingsfilm für den mexikanischen Panorama-Beitrag „Gueros“. Er verrät einen frischen, vergnüglichen Elan. Danach regierte das Gießkannenprinzip. Die beiden Darstellerpreise sind diskutabel, allerdings tappte die Jury nicht in die Falle, einen der vielen Laien auszuzeichnen oder naheliegenderweise einen der zahlreichen überzeugen den Kinderdarsteller. Ich will die sentimentale Genugtuung nicht verhehlen, die mir die Auszeichnung Haru Kurokis in „Chisai ouchi“ (The little house) bereitete; auch wenn dies gewiss ein großzügig vergebener Stellvertreterpreis war, der das Gesamtwerk ihres Regisseurs Yoji Yamadas ehren soll. Den Alfred-Bauer-Preis für ein Werk, das der Filmsprache neue Perspektiven eröffnet, an den 92jährigen Alain Resnais zu vergeben, setzte keine wirklich originelle Pointe. Mit dem Großen Preis der Jury für „The Grand Budapest Hotel“ und dem Regiepreis für Richard Linklater wurden die großen Publikumslieblinge auf eine Weise gewürdigt, die man sich so nicht ausgerechnet hatte. In ihrer breiten Streuung spiegelte die Verleihung die Ratlosigkeit des diesjährigen Wettbewerbs sehr präzis wider.

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Lahme Ente

Während ich diese Zeilen schreibe, sind die Entscheidungen längst gefallen, die Urkunden schon ausgestellt und die Bären bereits mit den Namen der Gewinner versehen. Aber ebenso wie Sie bin ich noch ahnungslos. Dieser Blog läuft keine Gefahr, ein Embargo zu brechen (nicht einmal ein törichtes). Gewiss, seit Donnerstag ist der Konsens eindeutig: Es scheint ausgeschlossen, dass „Boyhood“ heute Abend nicht den Goldenen Bären davonträgt. Dürfen wir in diesem letzten Moment der Unwissenheit dennoch glauben, dass bis zum Ende noch alles offen war? „Cesare deve morire“ von den Taviani-Brüdern hatte schließlich auch niemand auf dem Schirm.

In den letzten Jahren war der Punkt der Unwiderruflichkeit meist schon in der Mitte des Festivals erreicht: „Child’s Pose“ lief 2013 am Montag, „Nader und Simin“ zwei Jahre zuvor am Dienstag. Die Tage danach waren dann jeweils so entmutigend wie die zweite Amtszeit eines US-Präsidenten. In diesem Jahr hätte man bis zur Vorführung von „Boyhood“ aber nun wirklich keine Wetten auf den Ausgang abschließen mögen, so unübersichtlich war die Gemengelage. Deshalb sind auch heute Abend noch Überraschungen und nicht zuletzt Fehlurteile möglich. Jurys zeichnen ja nur im Idealfall nach Qualität aus. Sie müssen Rücksichten nehmen, streuen mitunter breit; der Proporz will gewahrt sein. Vier der diesjährigen sind Schauspieler. Die müssen schon von Berufs wegen ihre Ergriffenheit und Begeisterungsfähigkeit beweisen: mithin wäre durchaus ein Preis für „Aloft“ drin.

Diese relative Ungewissheit wird bestärkt durch die Preise, die bereits gestern Abend vergeben wurden. Die FIPRESCI-Jury hat „Aimer, boire et chanter“ von Alain Resnais ausgezeichnet – einstimmig, wie Jurypräsident Michel Ciment nicht müde wird zu betonen. Schwer vorstellbar, dass der Machtmensch Ciment da nicht erheblichen Druck ausgeübt hat. In der Sparte Panorama hat die Kritikerjury einen kapitalen Fehlgriff getan: der nett gemeinte brasilianische Film „Hoje eu quero voltar sozinho“ über das Coming out eines blinden Gymnasiasten hätte ohnehin besser in die Sektion „Generation“ gepasst, deren junges Publikum den didaktischen Anstand des Films jedoch bestimmt allzu schnell durchschaut hätte. Nun wollen wir uns für heute Abend nicht gleich auf das Schlimmste einstimmen. Interessant könnte es allemal werden.

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