Lahme Ente

Während ich diese Zeilen schreibe, sind die Entscheidungen längst gefallen, die Urkunden schon ausgestellt und die Bären bereits mit den Namen der Gewinner versehen. Aber ebenso wie Sie bin ich noch ahnungslos. Dieser Blog läuft keine Gefahr, ein Embargo zu brechen (nicht einmal ein törichtes). Gewiss, seit Donnerstag ist der Konsens eindeutig: Es scheint ausgeschlossen, dass „Boyhood“ heute Abend nicht den Goldenen Bären davonträgt. Dürfen wir in diesem letzten Moment der Unwissenheit dennoch glauben, dass bis zum Ende noch alles offen war? „Cesare deve morire“ von den Taviani-Brüdern hatte schließlich auch niemand auf dem Schirm.

In den letzten Jahren war der Punkt der Unwiderruflichkeit meist schon in der Mitte des Festivals erreicht: „Child’s Pose“ lief 2013 am Montag, „Nader und Simin“ zwei Jahre zuvor am Dienstag. Die Tage danach waren dann jeweils so entmutigend wie die zweite Amtszeit eines US-Präsidenten. In diesem Jahr hätte man bis zur Vorführung von „Boyhood“ aber nun wirklich keine Wetten auf den Ausgang abschließen mögen, so unübersichtlich war die Gemengelage. Deshalb sind auch heute Abend noch Überraschungen und nicht zuletzt Fehlurteile möglich. Jurys zeichnen ja nur im Idealfall nach Qualität aus. Sie müssen Rücksichten nehmen, streuen mitunter breit; der Proporz will gewahrt sein. Vier der diesjährigen sind Schauspieler. Die müssen schon von Berufs wegen ihre Ergriffenheit und Begeisterungsfähigkeit beweisen: mithin wäre durchaus ein Preis für „Aloft“ drin.

Diese relative Ungewissheit wird bestärkt durch die Preise, die bereits gestern Abend vergeben wurden. Die FIPRESCI-Jury hat „Aimer, boire et chanter“ von Alain Resnais ausgezeichnet – einstimmig, wie Jurypräsident Michel Ciment nicht müde wird zu betonen. Schwer vorstellbar, dass der Machtmensch Ciment da nicht erheblichen Druck ausgeübt hat. In der Sparte Panorama hat die Kritikerjury einen kapitalen Fehlgriff getan: der nett gemeinte brasilianische Film „Hoje eu quero voltar sozinho“ über das Coming out eines blinden Gymnasiasten hätte ohnehin besser in die Sektion „Generation“ gepasst, deren junges Publikum den didaktischen Anstand des Films jedoch bestimmt allzu schnell durchschaut hätte. Nun wollen wir uns für heute Abend nicht gleich auf das Schlimmste einstimmen. Interessant könnte es allemal werden.

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