Retrospektive: The Grapes of Wrath

Das revolutionäre Glimmen in mir ist entfacht. Als Warm-up diente Zorro, der mit schneller Klinge gegen die Unterdrücker kämpfte: „Justice for all!“ Hell entflammt wurde das Schwelen dann von John Ford, der davon erzählt, wie Amerikaner Amerikaner unterjochen um des Profits willen.

Ford adaptierte 1940 John Steinbecks Roman „The Grapes of Wrath“, der erst ein Jahr zuvor erschienen war, und beleuchtet das Schicksal der Farmerfamilie Joad aus Oklahoma. Im Mittelpunkt dabei Tom, gespielt von Henry Fonda, der nach vier Jahren Haft wegen Totschlags auf Bewährung raus ist und seine Familie sucht. Und feststellen muss, dass Großgrundbesitzer, Agrarkonzerne, Banken alle Famer der Gegend enteignet, von ihrem eigenen Land vertrieben und ins Exil gezwungen haben. Schuld? Schuld hat da keiner. Aber die Joads müssen weg.

Zum Glück gibt es Hoffnung. Handzettel aus Kalifornien: 800 Obstpflücker werden gesucht, gute Bezahlung. Also macht man sich auf, in einem heftig schnaufenden, uralten Truck, überladen mit Menschen und Material, die ganze Großfamilie inklusive einem ehemaligen Prediger, der den Glauben verloren hat. „Zum Predigen muss man wissen“, sagt er einmal, „und ich weiß nichts. Ich muss Fragen stellen.“

In Frage stellt Ford das kapitalistische System. Die ultrabrutalen Unterdrückungsmechanismen, in denen die Kleinen unter die Räder kommen und nur wenige (das berühmte eine Prozent) sich durchmogeln. Er nutzt dafür starke biblische Subtexte, er holt die Leute da ab, wo sie stehen: Die Fahrt entlang der Route 66 ist der Zug ins Gelobte Land, in dem Milch und Honig fließen, ebenso wie die Reise nach Bethlehem – denn in Kalifornien finden die Joads keinen Platz in der Herberge. Sie werden verwiesen auf ein dreckiges Flüchtlingslager vor der Stadt, da, wo die Rechtlosen leben müssen, ein Slum der armen Wanderarbeiter, Zugewanderte, mit denen keiner was zu tun haben will. Die höchstens dazu da sind, ausgebeutet zu werden, für einen Hungerlohn (und noch weniger) ein paar Stunden zu arbeiten, ohne Vertrag natürlich, ohne klare Entlohnung, die müssen froh sein, wenn sie überhaupt was kriegen. Wer aufmuckt, wird als Troublemaker verfolgt und erschossen; wenn dabei zufällig eine Frau getroffen hat, ist es auch egal.

Auf einer Farm schließlich kommen die Joads unter, 5 Cent für eine Kiste Pfirsiche ist OK – aber, wie sie rausfinden, werden sie perfide benutzt, die Armen im Abhängigkeitsverhältnis werden gebraucht als Streikbrecher: Weil die regulär Beschäftigten nur 2,5 Cent bekommen sollen; weil die Pfirsiche jetzt runter müssen; und weil auf jeden Fall alsbald die nachkommen werden, die’s auch für 2 Cent tun würden. Mindestlohn? Sozialleistungen? Es herrschen Hunger und Not! Um die Position des Kapitals gegen die Armen zu stärken, werden die ganz armen benutzt.

Dann kommen sie ins Paradies. Ein staatlich verwaltetes Arbeitercamp mit sanitären Einrichtungen (das Wunder der Klospülung!) und Krankenstation und mit Samstagabendtanz: Der Kapitalismus ist hier außen vor, es herrscht Selbstverwaltung, und der Sheriff, seine Deputys, die natürlich im Sinne der Bonzen handeln, sind ausgeschlossen. Ist das zu schön, um wahr zu sein? Es ist das Ideal, eine Utopie, die verwirklicht wurde. Und die den Joads doch wenig nützt, wenn die Arbeit irgendwo im Norden wartet. Und wenn vorher Tom (wir erinnern uns: auf Bewährung frei) in Notwehr einen Milizionär erschlagen hat – was ihm natürlich als Vorsatz in die Schuhe geschoben wird. Wer Geld hat, schafft an, auch Recht und Gesetz müssen sich ihm beugen. Und Tom muss gehen. So zerbricht die Familie, diese rechtschaffenen Amerikaner, die nichts wollen, als ihr Glück verfolgen, ein kleines Glück mit einem kleinen Stück Land, das ihnen in diesem Land der unbegrenzten Grausamkeiten nicht zugestanden wird.

Wo kein Land ist, da kann die Familie nicht gedeihen. Wer entwurzelt ist, wird vereinzelt. Solidarität unter den unterdrückten Massen ist eine Kraftanstrengung, die kaum zu erreichen ist, solange einer der Bettelarmen der Versuchung des Hungerlohnes erliegt. Doch immerhin: Jetzt ist die Zeit, Fragen zu stellen. Fragen nach dem System, Fragen danach, was die Gesellschaft, was die Welt zusammenhält. Fragen danach, wer eigentlich das Volk ist.

Der Zorn trägt Früchte. Früchte, die aufgehen werden.

 

Harald Mühlbeyer

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die müdigkeit zu ende des festivals

Schon wieder eine kleine Katastrophe. Das neue Tablet mit mindestens fünf Seiten für diesen Blog geschriebenem Text lässt sich nicht mehr anschalten. Zum Glück ging es gestern mittag nach der Veranstaltung der Frauenfilmfestivals noch, als ich in einer knappen halben Stunde meinen Bericht für den Tagesspiegel schreiben sollte. Da gab’s zwar auch Probleme, aber nur mit dem Email-Anhang. Aber jetzt geht gar nichts mehr. Also morgen zum Kundendienst. Und dann versuchen, noch Karten für “Late Autumn” von Ozu in der Retro zu bekommen. Immerhin habe ich gestern endlich Ken Loachs “Kes” gesehen. Schön. Nur das zu testende Beef-Sandwich musste einem Besuch bei meinem Lieblings-Mexikaner weichen.

Dabei hatte ich gestern endlich mal so wirklich geniale Sachen geschrieben. Doch ade, du schnöde Welt! Rekonstruieren will ich das jetzt jedenfalls nicht noch einmal. Und auch von der gelungenen und powervollen Frauenveranstaltung habe ich mich jetzt schon in zwei Pflicht-Texten fast leer geschrieben. Wollte gerade zur Information die Links zu den Artikeln in Tagesspiegel und die.Standard (eine informative Webseite zu Frauenfragen) setzen, finde aber leider auf beiden Webseiten meine Texte nicht. Muss ich mir was überlegen. Aber jetzt zu müde…

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Meister des Beinahe

Wir haben  noch gar nicht über Noburo Nakamura gesprochen. Es wäre ein schlimmes Versäumnis, wenn ich Sie nicht auf die Mini-Retrospektive hinweisen würde, die zunächst im Forum und danach im regulären Programm des Arsenals gezeigt wird. Er ist einer jener Studioregisseure aus Japan, zu deren Wieder-/Neuentdeckung das Forum alljährlich einlädt. Wiederum handelt es sich um einen kleinen Meister, der große Verehrung verdient: einen, der die Umbrüche im Nachkriegskino nicht vorangetrieben, aber empfindsam begleitet hat. Womöglich besitzen seine Filme gerade deshalb ihren Wert als Dokumente der Sitten- und Mentalitätsgeschichte Nachkriegsjapans, weil sie im Schutz des Studiosystems (Nakamura war bei Shochiku) entstanden sind und die Indizien des gesellschaftlichen Wandels vorfanden, ohne sie zu suchen.

Die drei Filme weisen eine erstaunliche stilistische Bandbreite auf, besitzen zugleich allerdings große thematische Kontinuität. Immer wieder geht es um die Idee des Zuhauses, das allerdings zusehends weniger für den traditionellen Familienzusammenhalt steht. Der erste, „Home Sweet Home“, stammt von 1951 und ist ein zuvorkommendes Alltagsmelodram. Die Tugenden der Disziplin und des Maßhaltens können noch hochgehalten werden, die Risse in der Fassade lassen sich noch schließen. In „When it rains, it pours“ herrscht sechs Jahre später schon ein anderer Ton. Das Zuhause ist zugleich eine Pension, die  einen schlechten Ruf als Stundenhotel hat. An dieser Depravierung leiden die Kinder, die überdies noch entdecken müssen, dass sie die Zweitfamilie ihres Vaters sind (eine konfliktreiche Situation, die hier übrigens weit vielschichtiger behandelt wird als in dem argentinischen Wettbewerbsbeitrag „La tercera orilla“). Auch in „The Shape of Night von 1964 macht sich Nakamura, nun in CinemaScope und Neonfarben, einen weiblichen Blickwinkel zu Eigen. Diesmal steht eine Prostituierte im Mittelpunkt und fehlt die Familie als Garant einer Lebensorientierung  vollends.

Drei Filme lassen sich schwerlich auf ein Werk hochrechnen, als Momentaufnahmen sind sie jedoch aufschlussreich. 1951 arbeitet Nakamura noch im Fahrwasser Ozus, wenngleich bei ihm das Harmoniebedürfnis ausgeprägter ist. 1957 muss er gespürt haben, dass etwas Neues in der Luft lag, eine Ahnung von jugendlicher Rebellion und zunehmender Verwestlichung der Sitten. Zu der Rauheit, die seinerzeit Regisseure wie Masaki Kobayashi ins Ki o brachten, mag er sich nicht durchringen. 1964 hat er gewiss die Filme der Neuen Welle in Japan gesehen. Aber sein Stil ist weniger heftig als der eines Nagisa Oshima, obwohl der Stoff dies zuließe. Seine Schwermut angesichts des Martyriums seiner Heldin bleibt beherrscht. Nakamura ist ein Seismograph, ein Erzähltemperament des Beinahe.

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Hofberichterstattung verboten

Gerade erreicht mich eine Pressemitteilung des Festivals, die ein Embargo verkündet für den noch unbetitelten Dokumentarfilm über die Literaturzeitschrift „New York Review of Books“, bei dem Martin Scorsese Co-Regie mit David Tedeschi führt. Üblicherweise setzt ein solches Embargo eine Frist: bis zu einem bestimmten Datum oder einer bestimmten Uhrzeit darf kein Artikel zu dem jeweiligen Film oder der Preisverleihung veröffentlicht werden. Dieses ist freilich umfassend: Nach der Vorführung am Freitag im Haus der Berliner Festspiele darf weder eine Kritik noch sonst eine Form der Berichterstattung erscheinen. Kehren in Berlin nun chinesische Zensurverhältnisse ein? (Man erinnere sich: „A Touch of Sin“ von Jia Zhang-ke hatte in der VR im letzten November zwar einen Alibistart, über den aber auf Anordnung des Propagandaministeriums kein Medium berichten durfte.) Hier liegt der Fall anders: Es handelt sich um ein work in progress, die Montage und Nachbearbeitung sind offenbar noch nicht fertig, weshalb nur drei Ausschnitte gezeigt werden. So speziell sind die Berlinale-Specials! Aber wem nutzt eine Vorführung solcher Appetithäppchen? Im Interesse der Filmemacher kann das nicht sein. Sollte es  womöglich tatsächlich Kinogänger  geben, die ihren Enkeln später einmal stolz erzählen möchten, sie seien dabei gewesen? Natürlich schmückt sich jedes Festival gern mit der Premiere eines Scorsese-Films, aber nicht jedes wäre so stolz darauf, Brosamen aufzusammeln.

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Retrospektive: The Mark of Zorro

Douglas Fairbanks: Ihn habe ich erst hier, bei dieser Retrospektive, entdeckt: als d’Artagnan und als Zorro meistert er den Degen im Kampf gegen das Böse, dass es eine Lust ist.

Im Kalifornien um 1820, hundert Jahre, bevor dieser Film von Fred Niblo gedreht wurde: Der Gouverneur ist böse, und einer nur wehrt sich gegen die Unterdrücker. Wo Einheimische misshandelt und Priester gedemütigt werden, ist er zur Stelle; und ach, wie böse sind die spanischen Herren! Sergeant Gonzales zum Beispiel, dieser kraftmeierische Rüpel, der gern mit Stühlen wirft und mit dem Degen fuchtelt: Den lässt Zorro im Duell in einem Wirtshaus kräftig auflaufen, inklusive Balanceakt auf einem Stuhl und Sprung aufs Wandbord. Sein Zeichen ritzt er ihm auf den Hosenboden, da müssen sogar die eigenen Leute lachen.

Zorro tritt auf hinter seiner Maske, mit vors Gesicht gehaltenem Cape in einer Zigarettenrauchwolke und mit V-förmigem Grinsen – dass dieser Rächer der Entrechteten kein anderer ist als Don Diego, ahnt keiner, nur der Zuschauer weiß es. Douglas Fairbanks spielt diese beiden Rollen einer Figur mit großem Spaß ganz unterschiedlich: Hier der flinke Degenartist, dort Diego, lummelig, schlaff, dauermüde, an dem alles zu hängen scheint, Kopf, Schultern, sogar die Beine sind nur sackartige Anhänsel des Rumpfes. Er ist kein Mann, er ist ein Fisch! Lolita ist empört über die Idee, dass sie ihn heiraten solle. Auch er macht sich wenig aus ihr – eine großartige Szene, wie er sich mit ihr bekanntmachen soll, aber mehr Interesse an einer Spielerei mit seinem Taschentuch zeigt als an ihr: „Mein Diener kann ganz gut Gitarre spielen. Er wird heute Nacht unter Ihrem Fenster ein Ständchen bringen.“ – „Schön, meine Magd mag Musik!“ (Ich liebe den prägnanten Dialogwitz, den man in manchem Stummfilm findet…)

Als Zorro blüht Don Diego auf, hinter der Maske kann er sehr viril flirten. Und natürlich verfällt Lolita diesem geheimnisvollen Mann in Schwarz, zumal er Captain Ramon deutlich in die Schranken verweist, der sie besitzen will – eine grandiose Fechtszene, liegend und über Tische springend ritzt er Ramon sein Z in den Hals… und Lolita schenkt ihm den Kuss, den Ramon ihr rauben wollte…

Fairbanks ist einfach fabelhaft, er weiß genau, wie er seinen Körper einsetzen muss als Held wie als Schluri. Sein Doppelleben hat er super im Griff, als Zorro steigt er in einem Gebüsch in eine Falltür, durch eine Geheimtür, ein paar Sprossen hinauf, durch die Wanduhr – und er ist zuhause, mimt den reichen Schnösel, der sich lustvoll der Ennui hingibt. Oder ist das seine wahre Natur, und sein Alter Ego Zorro ist die Verkleidung, hinter der er so richtig die Sau rauslassen kann?

Fechten gegen Gähnen, das ist die Devise, und ein dolles Finale gibt er dem Film: Eine Verfolgung wandelt er in ein lustiges Fangespiel um, es geht zu Pferde ins Dorf, dort klettert er Mauern hoch, schwingt sich auf Balkone, springt über Esel und über Schweinepferche, kraxelt eine Kirchenfassade hoch… um dann ganz gemütlich im Wirtshaus was zu frühstücken: Auf leeren Magen soll man nichts tun – außer essen.

 

Harald Mühlbeyer

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