Verlust des Selbstverständlichen

Kann man einen Film mögen, obwohl man seinen dramaturgischen Angelpunkt für völlig unglaubwürdig hält? Bei einer Komödie könnte das womöglich gelingen, bei einem Drama über Schuld und Vergebung wiegt der Zweifel jedoch ungleich schwerer. Bislang habe ich allerdings noch niemanden getroffen, den Matthias Glasners vor ein ebenso großes Dilemma stellt wie mich. Eine Krankenschwester, die Fahrerflucht begeht? Es erscheint mir undenkbar, dass sie gegen ihren Instinkt handeln würde. Die Zeiten, vielleicht auch die Sitten, mögen sich geändert haben, seit ich vor 30 Jahren meinen Zivildienst in einem Krankenhaus leistete. Überzeugt bin ich davon nicht. Schließlich ist bei der Figur, die Birgit Minichmayr in Glasners Film spielt, der Impuls, zu helfen bewundernswert ausgeprägt. Sie übt ihren Beruf hingebungsvoll aus. Umso weniger plausibel scheint mir ihr Zögern. Die Kollegen nehmen es hin, entweder sind sie großzügiger oder gedankenloser.

Ganz allein stehe ich mit meiner Pedanterie jedoch nicht. Glasner scheint gespürt zu haben, wie enorm der nachträgliche Erklärungsbedarf sein würde. Minichmayrs Figur beschwört die eigene Unbedingtheit: Sie sei doch ein guter Mensch, eine gute Krankenschwester, Mutter und Ehefrau. Dieser fatale Augenblick kann kein Teil von ihr sein. Conrads Lord Jim stand vor einem ähnlichen Problem. Er versuchte allerdings nicht, sich durch Verdrängung da heraus zu mogeln, sondern durch tätige Buße. Bei Glasner ist es banaler und komplizierter zugleich. Der Moment der Unterlassung ist Indiz einer unruhigen Apathie. Den Schritt zum unmittelbaren Handeln ist einer, den kaum eine Figur in den deutschen Wettbewerbsfilmen vollzieht. Scheu und Zögern blockieren sie. Danach geht es erst einmal nur ums Aushalten. Warum verschieben der Vater und die Söhne in „Was bleibt“ die Suche nach der verschwundenen Mutter so umstandslos auf den nächsten Morgen – und delegieren ihn dann auch noch untertänig an die Polizei? Wenn Lars Eidinger in der zweiten Nacht endlich mit einer Taschenlampe in den Wald aufbricht, stellte sich schon die Frage: Warum nicht gleich so?

Es entscheidet nicht über Wohl und Wehe des Films, ob man den neuralgischen Punkt bei  Glasner akzeptiert oder nicht. Aber er schürt Zweifel daran, wie organisch das Drehbuch tatsächlich konstruiert ist. Die Ausgangssituation ist allemal stark genug, um Fördergremien zu beeindrucken und Fernsehredakteure als Co-Produzenten mit ins Boot zu bekommen. Aber die wollen ihr Gehalt ja auch verdienen und dürfen deshalb nicht untätig sein. Der Stoff muss mit Resonanzen aufgeladen werden. Auch der Sohn lädt eine kleine Schuld auf sich, die als Spiegel fungiert. Da es ja auch ein Beziehungsfilm ist – in deutschen Filmen stets ein sehr enges, stickiges Erzählmodell -, müssen Tangenten hinzugefügt werden. Es bekommt dem Film in der Tat gut, dass er im nördlichsten Norwegen spielt, dass der extreme Gegensatz von Licht und Dunkel das Drama umfängt. Auf einen so banalen Zuschuss wie die Manie des Sohnes, den Bruch im Leben der Familie mit dem Mobiltelefon zu filmen, hätte man indes gern verzichtet. (Mal ganz zu schweigen von dem folgenlosen Auftauchen einer Pistole.) Figuren dabei zuzuschauen, wie sie die Ereignisse aufzunehmen, besitzt schon bei Wenders oder in „American Beauty“ ein jämmerliches Pathos. Es gibt wenige filmische Akte, die visuell so klein und ertraglos sind.

Aber bei Seite schieben kann ich „Gnade“ mit diesen Einwänden nicht. So leicht wird man mit ihm nicht fertig. Die Bilder der ratlosen, heimgesuchten, beinahe verlorenen Figuren lassen einen nicht los. Glasner bringt Moral und Liebe (sowie den Verrat daran ) auf eine Art zusammen, wie sie in einem amerikanischen Film undenkbar wäre. Es ist ein großer Moment, wenn Jürgen Vogel Birgit Minichmayr gesteht, dass er seit sechs Monaten ein Verhältnis mit einer Arbeitskollegin hatte und sie ihm eröffnet, dass sie auch von seiner Affäre daheim in Kiel wusste. Diese zweifache Beichte mündet in eine Kaskade der Liebeserklärungen und eine ungemein berührende Bettszene. Anfangs, als es zwischen ihnen noch aus ganz anderen Gründen kompliziert war, sprachen sie davon, dass der Umzug nach Norwegen für ihre Beziehung eine zweite Chance sei. Das ist die einzige Hoffnung, die den Paaren in den deutschen Wettbewerbsfilmen bleibt.

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