Hören und Sehen

Ein guter Dialogsatz muss nicht brillant sein. Er bezieht seine Wirkung aus der Stärke der Situation, in der er fällt. Den größten Lacherfolg im Wettbewerb erzielte bislang die Replik des kleinen Jungen, der im norwegischen Beitrag „Kraftidioten“ von Stellan Skarsgard entführt wird. Dessen Vater, ein Drogenboss, hat die Hinrichtung von Skarsgards eigenem Sohn in Auftrag gegeben. Dafür nimmt dieser Rache, was sich mit jeder höheren Stufe in der Bandenhierarchie tarantinoesker ausnimmt. Zu dem Zeitpunkt, als Skarsgard den Sohn seines Widersachers kidnappt, hat er bereits eine erstaunliche Gelassenheit erreicht. Er und der Junge verstehen sich gut. Der aufgeweckte Gangsterspross scheint wenig an dem Trauma der Scheidung seiner Eltern zu leiden, sich dafür aber umso mehr für die Schneepflüge seines Entführers zu begeistern. Als dieser ihn am Abend vor der endgültigen Vergeltungsschlacht einen Katalog mit Räumfahrzeugen zeigt, hält er ihn  väterlich im Arm. Das behagt dem Jungen sehr. Mit aller Altklugheit, die man Halbwüchsige  diesseits von Hollywood zubilligen mag, fragt er Skarsgard: „Weißt Du, was das Stockholm-Syndrom ist?“

Am Festivalmontag fiel noch ein anderer, ungleich banalerer Dialogsatz, der mich indes weit mehr berührte. Lou Yes Ensemblefilm „Blind Massage“ spielt in einer Massagepraxis, in der lauter Blinde arbeiten. Das ergibt Sinn und hat in Asien offenbar Tradition (es gibt auch zahlreiche japanische Filme zu dem Thema). Dem Blindsein bin ich auf dieser Berlinale schon in diversen Filmen begegnet: Zweimal im Panorama (ziemlich fad) und einmal in der Retrospektive (ziemlich explosiv). Ein ideales Filmthema, an dem man sich mächtig verheben kann.

Die Masseure suchen bei Lou Ye allesamt und auf eigene Weise nach Liebe. Im Zentrum steht Ma, der sein Augenlicht als Kind bei einem Verkehrsunfall verlor. Auf Anraten eines Kollegen besucht er ein Bordell, in dem sich bald eine innige Beziehung zu einer Prostituierten anbahnt. Eines Abends findet dort eine Razzia statt. Am Morgen danach wird Ma von der Polizei freigelassen. Bei der Rückkehr in die Praxis setzt er sich in den Aufenthaltsraum. Der einzige Dialogsatz der Szene könnte trivialer kaum sein. „Ist jemand hier?“ fragt Ma in die Stille. Mich beschäftigt er seither ungemein: Empfinden Blinde Scham auf andere Weise als Sehende? Immerhin müssen sie sich dem Blick der Anderen nicht stellen.

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