Nach Buda oder Pest?

Erst denkt man: „Schön, dass sie überhaupt dran gedacht haben.“ Aber sogleich schämt man sich fremd: Entweder sie machen es richtig oder gar nicht. Selbstverständlich kam die Berlinale um Hommagen an Maximilian Schell und Philip Seymour Hoffman nicht herum. Aber wie sollte sie es halten mit dem dritten, großen Verstorbenen des letzten Wochenendes, Miklós Jancsó? Da wird das notorisch geschichtsvergessene Festival vor eine harte Gewissenprüfung gestellt. Gestern kam die Pressemitteilung, der ungarische Regisseur würde mit der Vorführung eines Omnibusfilms geehrt, zu dem er eine Episode beitrug und der 2011 in Berlin lief. Allerdings fand sich kein Kino dafür, weshalb er nun online zu sehen ist. Bequemer kann man sich ein Alibi nicht verschaffen.

Aber denken wir diese vergiftete Ehrung mal konsequent weiter. Nun ist zwar weder kurz-, noch mittelfristig damit zu rechnen, dass sich das Festival gänzlich in die virtuelle Welt verabschieden wird – wozu brauchte man dann noch den roten Teppich? Aber der Gedanke wäre reizvoll, im Februar nicht in Berlin sein zu müssen. Einem ortlosen Festival ließe sich auch in der Ferne beiwohnen. In diesen Tagen könnte man beispielsweise im Filmmuseum München die exzentrischen Genrefilme von Seijun Suzuki oder Werke von (und nach Drehbüchern von) Jean Cocteau sehen. In Frankfurt würde man Antworten auf die Frage finden, was Fassbinder jetzt bedeutet. In Wien stehen das Werk von Kenji Mizoguchi und die unbekannten Regiearbeiten seiner Lieblingsschauspielerin Kinuyo Tanaka auf dem Programm des Österreichischen Filmmuseums. In Zürich gewinnen die Handschriften des Drehbuchautors Jean-Caude Carrière und des Hollywood-Außenseiters Monte Hellman unverwechselbare Konturen. An der South Bank in London könnte man Al Pacino noch einmal in seinen großen Rollen erleben und der Bedeutung von Buster Keaton für das moderne Kino nachspüren. Und in der Pariser Cinémathèque würde man die prächtigen Genrefilme von Henry Hathaway neu besichtigen oder feststellen, dass David Tebouls Dokumentation über Yves Sait Laurent weit präziser und aufschlussreicher ist als das ratlos schwelgerische Biopic, das Jalil Lespert heute Abend im Panorama vorstellt.

Wer derlei ketzerische Träumereien bei Seite schiebt, dürfte auch an der Berlinale seine Freude haben. Auch hier lassen sich cinéphile Entdeckungsreisen unternehmen. Die Retrospektive zeigt die Filmgeschichte in einem neuen Licht, sie verfolgt die Strahlkraft von Beleuchtungsstilen über drei Kontinente und vier Jahrzehnte hinweg. Und der Wettbewerb nahm gestern mit Wes Andersons „The Grand Hotel Budapest“ einen vergnüglichen Anfang. Der führt den Zuschauer zwar auch nicht in die Gegenwart (ich weiß, Ihnen wird es allmählich zu viel vor lauter Nostalgie), aber das wird in den nächsten Tagen bestimmt noch zur Genüge geschehen. Wiederum erweist sich Anderson als ein gentleman filmaker (so wie Cole Porter ein gentleman composer war), als gewissenhafter Dandy, dessen Charaktere das Leben als ein ästhetisches Abenteuer in Angriff nehmen. Es ist ein Reisefilm, der gegenüber der Indien-Eskapade „The Darjeeling Limited“ den Vorzug hat, nicht den Vorwurf post-kolonialer Ignoranz auf sich zu ziehen, weil das Terrain ein vollständig fantasiertes ist. Er spielt in jenem mythischen Mitteleuropa, das man in gewissen englischen Romanen des 19. Jahrhunderts gern Ruritanien nannte und das danach Schauplatz diverser Lubitsch-Musicals war. Dass der Film von den Novellen und Romanen Stefan Zweigs inspiriert wurde (wie ein Abspanntitel behauptet), mag ich ihm nicht glauben. Seine Sicht auf eine verschwundene, zivilisiertere Welt ist allzu schwerelos (mitunter geht es allerdings auch ziemlich blutrünstig zu, wenngleich die Schurken doch eher Operetten-Nazis sind). Wir befinden uns mitten im Universum Lubitschs oder Noel Cowards, wo allein gute Manieren schon ein moralischer Wert von höchsten Graden ist. Ralph Fiennes ist formvollendet als Concierge, der jedes Gegenüber, gleichviel welchen Alters oder Geschlechts, als Objekt eleganter Verführung betrachtet. Es ist zauberhaft, wie er den jungen Pagen Zero unter seine Fittiche nimmt. Ein idealer Protagonist für Anderson, dessen Inszenierung ausgesucht förmlich ist. Es wird wohl eine Regisseursfantasie sein, dass die Welt aus lauter dienstbaren Geistern besteht.

 

 

 

 

Dieser Beitrag wurde unter Berlinale 2014 abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.