Ahnenforschung

In „Variety“ erschien gestern ein Artikel, dessen Themenstellung und Überschrift („Wes Anderson talks about his ‚Grand‘ influences“) mich verwunderten: Gäbe es nicht interessantere, dringlichere Fragen, die man dem Regisseur des Eröffnungsfilms stellen könnte? Andererseits ist diese legitim natürlich oft ertragreich.

Nicht nur die Retrospektive führt vor, wie reizvoll der Blick auf die Genealogien filmischen Erzählens ist. Auch die ersten Wettbewerbsbeiträge bieten Anlass, sie als Einflussdelta zu erkunden. Die Dramaturgie des patent konzentrierten Irlandkonflikt-Thrillers „‘71“ folgt dem Modell von Carol Reeds „Odd man out“ (Ausgestoßen). Wie einst James Mason irrt hier ein versprengter und verletzter englischer Soldat durch das nächtliche Belfast, schleppt sich von einer vorläufigen Zuflucht zur nächsten Bedrohung. Bei Dominik Grafs „Die geliebten Schwestern“ musste ich sehr bald an den schönsten Film von François Truffaut denken, „Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent“. Das Ineinandergreifen von Erzähltext aus dem Off und Dialogen, die regelmäßige Überblendungen von Episteln auf deren Verfasser als filmisches Äquivalent eines Briefromans lehnen sich an die Kunstfertigkeit an, mit der Truffaut und sein Drehbuchautor damals den zweiten Roman des „Jules und Jim“-Autors Henri-Pierre Roché adaptierten.  „La Voie de l’ennemi“ von Rachid Bouchareb schließlich ist sogar veritables Remake: von José Giovannis „Endstation Schafott“ (der seinerseits deutliche Anleihen bei Victor Hugos „Die Elenden“ aufweist). Die wahrscheinliche Abkunft des ersten deutschen Beitrages „Jack“ hingegen kam mir kurioserweise zunächst gar nicht in den Sinn. Allzu sehr war ich bei dem tapferen Titelhelden, der mit seinem kleineren Bruder drei Tage lang in Berlin die so ahnungs- wie verantwortungslose Mutter sucht; zu sehr beschäftigte mich die Frage, wie man so etwas in Deutschland erzählen kann, als dass mir auffiel, in welchem thematischen und stilistischen Kosmos sich der Film bewegt. Erst nach der Vorführung, als ich aus aller Munde hörte, dies sei doch eigentlich ein Dardenne-Film, wurde mir das klar.

All diese Filme adaptieren diese Modelle, um etwas Eigenes daraus zu schaffen. Bouchareb führt diese Abgrenzungsstrategie nach Amerika, wo bislang nur ganz, ganz wenige französische Filmemacher heimisch wurden. Forest Whitaker spielt die alte Rolle von Alain Delon mit viel mehr Ballast (er ist nicht nur schwarz, sondern im Gefängnis auch noch zum Islam übergetreten, was seine Resozialisierungschancen in New Mexico noch weiter verringert), Brenda Blethyn spielt seine verständnisvolle Bewährungshelferin (im Original Jean Gabin) und Harvey Keitel den gerechtigkeitsliebenden und patriotischen Polizisten (den Michel Bouquet, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, damals von vorneherein böser anlegte). Auf dem Papier klingt das alles erst einmal vielversprechend. Aber auf dem Papier fingen bereits die Probleme des Films an, dessen Dialoge man den Schauspielern nur selten glaubt. Es hilft auch nicht, dass Bouchareb eine Spur zu überwältigt ist von der Schönheit der Landschaft und dass die Digitalfotografie sämtliche Gesichter ausbleicht.

Grafs Film hingegen war für mich eine köstliche Überraschung. Einen solch stilsicher epischen Historienfilm hätte ich diesem Spezialisten für urbane Gegenwärtigkeit nicht zugetraut. Die Dreiecksgeschichte zwischen Schiller und den zwei Lengefeld-Schwestern erzählt er als zunächst emphatische, dann immer unhaltbarere Symmetrie der Gefühle. Die Frage, was daran aktuell und was historisch ist, stellte sich mir nie: So frei, mit solcher Frische und fast nonchalant nimmt er von dieser Welt Besitz. In den 20er Jahren hätte ein Kritiker womöglich geschrieben, Graf habe endlich das Problem des Historienfilms gelöst.  Dagegen ist „Goethe!“ von Philipp Stölz nur ein kecker Gymnasiastenstreich. Die Dialogsätze sind mitunter holprig lang und verschachtelt – so sprach man auch damals wohl nicht -, aber sie tragen ebenso wie der von Graf selbst gesprochene Kommentar zu einer Atmosphäre des literarischen Schaffens und Lebens bei. Die Stimme aus dem Off besitzt eine flüssige, reflektierende Notwendigkeit. Wie furchtbar ist es dem gegenüber, das Voice over in „The Monuments Men“ zu hören, dieses verklärende Pathos, das dem Publikum ständig vorbuchstabieren muss, wie legitim die Mission der Helden ist! Sollte den Amerikanern die Idee des Kulturerbes wirklich so fremd sein?

„Die geliebten Schwestern“ ist lang, er dauert 170 Minuten. Aber den Gedanke, dass er im Kino in einer um eine halbe Stunde gekürzte Fassung  und dann im Fernsehen als Zweiteiler laufen soll, finde ich ungeheuer trist. Im Kino, sagte er bei der Pressekonferenz, würden dann nur Übergangsszenen fehlen, also lyrische Passagen und die Kutschfahrten. Auch die mag ich nicht missen. „Es geht alles knapper“, sagt Schiller beim Redigieren. Vielleicht, aber nicht in diesem Film.

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