Eros und Thanatos

Es gibt zwei Konstanten bei Filmen von Lars von Trier: sie sind immer provokativ und immer anders als man erwartet. Selbst bei Filmen, die einander so ähnlich sind wie Dogville und Manderley werden Unterschiede deutlich, die in der identischen Struktur unterzugehen drohten. Jetzt also Nymphomaniac, ein Film, dem ein Ruf vorausging, von draller Pornographie und unerotischer Nacktheit, von treibendem Sex und wenig Verstand. So hat man sich dann darauf eingestellt, mehr als zwei Stunden Obsessionen und Neurosen zu ertragen und sich immer mal wieder wegzuducken. Und dann? Die sanfte erste Szene, in der der Schnee fast klingend in einen Hinterhof fällt, der rau, nass und geschützt zugleich ist, nimmt dem Film schon alle Ahnungen von Gewalt, selbst wenn dort eine verletzte Frau liegt, eine Frau die viel erlebt hat. Von ihren Erlebnissen wird sie erzählen, von ihren Verletzungen erstmal nicht. Dazu müssen wir auf den zweiten Teil warten. Charlotte Gainsbourg und Stellan Skarsgård sind der notwendige Rahmen des Films, ihm wird sie alles erzählen, ohne Kompromisse. Sie sind die Projektion und der Zuhörer, die Geschichten und ihre kritische Instanz. Denn ebenso wie es in diesem Film kaum um Sex, sehr viel aber um Liebe und Tod geht, geht es auch um das Erzählen selbst, um die Kraft und die Bedeutung von Geschichten. „Überleg dir wovon du mehr hast“, wird Charlotte Gainsbourg im Lauf der Handlung einmal sagen, „wenn du meine Geschichten glaubst oder wenn du an ihnen zweifelst.“ Wir sind hin und hergetrieben zwischen Glauben und Zweifel und treffen auf eine Erotik, die theologische Dimensionen annimmt. Sex ist in seiner Mechanik nur ein Instrument der Selbsterkenntnis. Die beste Zutat, so heißt es im Film, sei Liebe.
Lars von Trier hat keine Scheu vor Pornographie. Jahrelang hat er in seiner eigenen Firma, Innocent Pictures, Pornofilme produziert, und zwar solche, die sich als frauenfrendlich verstehen, ganz im Gegensatz zu dem Frauenbild in seinen frühen Filmen. Diese Firma gibt es heute nicht mehr, die Thematik jedoch hat Eingang gefunden in seine Filme. Es ist so viel einfacher, Sex darzustellen als Liebe. Sex ist bildhaft, schon in seiner geringsten Andeutungen. Liebe muss man erzählen. Und das ist das Zentrum dieses Films, die eine große Erzählung, die das Leben ausmacht.

Über Ulrich Sonnenschein

Ulrich Sonnenschein, geboren 1961, Studium der Germanistik und der Kommunikationswissenschaft, Promotion über Arno Schmidt. Nach einem Jahr als Lektor an der Universität Limerick, Irland, arbeitet er seit 1989 als freier Redakteur, Autor und Moderator vor allem in der aktuellen Kulturredaktion des Hessischen Rundfunks. Seit er als sechsjähriger jeden Sonntag in die Matinee-Vorstellungen seines Vorstadt-Kinos ging, schreibt er über Filme. Erst privat, dann professionell und jetzt in einer Mischung aus beidem im Netz.
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