Hochwandkino

Vielleicht macht die Berlinale am Ende aus uns ja noch bessere Leser. Wer weiß, ob „The Grand Budapest Hotel“ nicht das Interesse an Stefan Zweig neu entfacht und Dominik Grafs „Die geliebten Schwestern“ manchen Kinogänger nicht animiert, seine Schiller-Ausgabe zu entstauben? Auch „O Honem das Multidoes“ im Panorama rühmt sich einer literarischen Abkunft: Ein Abspanntitel verweist auf Edgar Allen Poes Kurzgeschichte „Der Mann in der Menge“.

Da mir die Beziehung zwischen beiden auf Anhieb schleierhaft war, zog ich Poes Geschichte zu Rate. Das traf sich gut, da sie sich mir beim ersten Lesen vor ein paar Jahren nicht recht erschlossen hatte und ich nun hoffte, zwei Fliegen des Nichtverstehens mit einer Klappe zu schlagen. Wie fruchtbar die Lektüre Poes sein kann, demonstriert ja auch eine Episode von „Nymph()maniac“, wo Stellan Skarsgard von dessen Delirium-Tod erzählt und aus dem Anfang von „Untergang des Hauses Usher“ zitiert. In „Man in der Menge“ folgt ein namenloser Erzähler fasziniert einem Fremden, der rastlos durch unterschiedliche Viertel Londons irrt, sich unter die Menschen mischt, aber mit keinem ein Wort wechselt. Die Verbindung zwischen Kurzgeschichte und Film offenbart sich praktischerweise gleich in der ersten Zeile, dem Motto, das Poe dem düsteren Flanieren voranstellt: „Das größte Unglück ist es, nicht allein sein zu können.“ Im Zentrum des Films von Marcelo Gomes und Cao Guimaraes, einem Grenzgänger zwischen bildender Kunst und Kino, steht eine Figur, die ebenso wie Poes nächtlicher Wanderer zu Mobilität und Unbehaustheit verflucht ist. Juvenal ist Fahrer eines Nahverkehrszugs in der Großstadt Belo Horizonte, der seine Freizeit schweigend auf den Straßen und Bahnsteige der Stadt zubringt. Auch er wird beobachtet, von seiner Kollegin Margó, die das Verkehrsnetz auf Monitoren überwacht und deren Privatleben sich wesentlich vor dem Computer ihres Labtops abspielt.

Das Teuflische, das Poes Erzähler im Antlitz seiner Titelfigur ausmacht, findet hier ihr Äquivalent in der Eigenschaftslosigkeit Juvenals. Obwohl man in der Kantine um einen solch faden Eigenbrötler vernünftigerweise einen großen Bogen machen würde, bittet Margó ihn, Trauzeuge bei ihrer Heirat mit einer Internetbekanntschaft zu sein; schon aus Mangel an Alternativen. Beide sind eher Symptome einer modernen Malaise als Charaktere. (insofern schließt der Film an die Beobachtungen an, die ich vor ein, zwei Tagen in dem Blog zur unvornehmen Blässe darlegte). Dazu passt es, dass der Film in einem „kranken“ Format gedreht ist: Das Bild ist quadratisch, es beschneidet das menschliche Blickfeld empfindlich. Mithin nicht Breitwand-, sondern Hochwandkino. Ein hübsches Experiment mit Wahrnehmung und filmischem Raum, das nicht auf dem Rücken der Figuren ausgetragen wird. Diese Enge des Bildes isoliert Juvenal, entfremdet ihn. Spannend wird es, wenn zwei in ihr Platz haben müssen. Am Ende sind die beiden Monaden in ein einträchtiges Schweigen vertieft, das schließlich auch dem Zuschauer behaglich ist. Eine minimalistische Annäherung zwischen den Figuren (sowie zwischen ihnen und dem Zuschauer), bei der redlicherweise keine heitere, lichte Zweisamkeit versprochen ist. Poes Geschichte habe ich mittlerweile eine Spur besser verstanden. Gerade lese ich seine Novelle „William Wilson“, die Louis Malle in den 1960er als Teil des Episodenfilms „Außerewöhnliche Geschichten“ verfilmte (mit Delon und Bardot!). Den habe ich bislang nur unaufmerksam gesehen. Kann nicht schaden , ein besserer Zuschauer zu werden.

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