Keine vornehme Blässe

Das am härtesten erstrittene Gut auf einem Filmfestival ist die Aufmerksamkeit. Bei diesem  Wettstreit gehen manche Filme mit einem enormen Vorteil an den Start: Sie sind schon berühmt. In der Regel hat man sie zwar noch nicht gesehen, aber ihre Legende eilt ihnen voraus. Das schützt glücklicherweise nicht vor Überraschungen. Was ich in britischen  und französischen Zeitungen über „Nymph()maniac“ las, bereitete mich nicht wirklich auf den Film vor, den ich am Sonntagmittag sah. Ein Aspekt, der mich ungemein fasziniert, ist die Gelehrsamkeit des Zuhörers Seligman (Stellan Skarsgard – wo hat Uli Sonnenschein eigentlich das Sonderzeichen über dem „a“ in der letzten Silbe des Nachnamens her?). Sie erlaubt es ihm, die Lebensbeichte von Joe (Charlotte Gainsbourg) emphatisch, gewährend und beziehungsreich zu begleiten bzw. zu hinterfragen. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung dieses forschenden Dialogs, zumal der erste Teil mit einem tollen Cliffhanger endet.

Allerdings musste ich mich beim Sehen des Films mit einem ästhetischen Problem auseinandersetzen, das mich im Verlauf des Wettbewerbs zusehends peinigt. Mit dem Verschwinden der Hautfarbe in der digitalen Filmfotografie mag ich mich partout nicht abfinden. Warum sollte ich? Ich wünschte, ich wäre mit den technischen  Bedingungen besser vertraut. Gleichwohl erscheint es mir nicht unausweichlich, dass in fast allen Filme die Gesichter so beklagenswert fahl erscheinen müssen. Die Akteure in Rachid Boucharebs „La Voie de l’ennemi“ sehen bleich so aus, wie es ihre Gebeine nach einigen Monaten unter der Wüstensonne New Mexicos tun würden. Atmosphärisch passt das zu einigen Filmen sehr gut – „Nymph()maniac“ ist unter anderem ja auch eine klinische Studie. Der argentinische Beitrag „Historia del miedo“ (den wohl nur die Eitelkeit der Festivalmacher vom Panorama in den Wettbewerb befördert hat – er wurde vom hauseigenen World Cinema Fund subventioniert) schürt meinen Verdacht, dieses Oktroy der Blässe sei zwar nicht wohlüberlegt, aber doch gewollt. Das bedrückend enge Farbspektrum der Digitalfotografie eignet sich schlecht für vitale Figuren, sehr wohl aber für erloschene.

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