Noch mal davongekommen

Wenn ich die Pressevorführung von Sebastian Lelios „Gloria“ nicht wegen eines bedrängenden Abgabetermins (für einen Text, der dann leider doch nur mittelprächtig wurde) versäumt hätte, wäre meine Zwischenbilanz vielleicht schon am Sonntag wohlwollender ausgefallen. Wer weiß. So spielte ich noch bis zum Montag  zeitweilig mit dem Gedanken meine Akkreditierung, ministeriellem respektive päpstlichem Beispiel folgend, zurückzugeben.

Mit dem rumänischen Beitrag „Potitia Copilului“ hat der Wettbewerb jedoch einen ebenso beglückenden Wendepunkt erreicht wie vor zwei Jahren mit „Nader und Simin“. (Sogar einen Tag früher – Asghar Farhadis Film lief seinerzeit am Dienstag.) Der schon im Hafen havarierte Tanker nimmt doch noch Fahrt auf. Der Film kreist um einen Verkehrsunfall, bei dem ein 14jähriger Junge getötet wurde. Aber er nimmt nicht die Perspektive des Mannes ein, der das Unglück durch ein hochtouriges Überholmanöver verschuldet hat. Vielmehr schildert Regisseur Calin Peter Netzer dessen Folgen aus der Sicht von dessen erstickend besitzergreifender Mutter. Sie verfügt über beste gesellschaftliche und politische Verbindungen und lässt nichts unversucht, den Sohn vor einer Verurteilung zu bewahren. Sie nötigt ihn, seine Aussage umzuschreiben, will einen Zeugen bestechen und die Familie des Opfers mit Geld ruhig stellen. Nach ein paar Anrufen erweisen sich auch die zunächst widerspenstigen Polizeibeamten als willfährig. Cornelia versteht es, alle auf ihre Seite zu bringen; nur den Sohn nicht, um dessen Liebe sie unerbittlich buhlt. Luminita Gheorghiu ist mitreißend in dieser Rolle. Das Annäherungsduell, das sie sich mit der Lebensgefährtin ihres Sohnes liefert, ist ein Kabinettstück. Die junge Frau ist eigentlich schon keine Rivalin mehr – sie eröffnet ihr, dass sie den Sohn verlassen will. Sie ersinnt die gleichen Winkelzüge, um ihn vor Strafverfolgung zu bewahren, nur immer etwas später als die erschreckend geistesgegenwärtige Mutter. Es ist wunderbar, wie die Handkamera zwischen den verfeindeten Komplizinnen vermittelt und noch großartiger, wenn sie den erwarteten Schwenk doch nicht vollzieht.

Ohne Zweifel geht der grandiose Perspektivenwechsel nicht allein auf Netzers Konto. Es wäre unverzeihlich, den Namen seines Co-Autors zu unterschlagen. Razvan Radulescu hat zuvor Filme wie „Dienstag nach Weihachten“ geschrieben und als Drehbuchberater an „4 Monate, 3 Wochen, zwei Tage“ mitgewirkt, dessen entscheidenden Kunstgriff „Potitia Copilului“ wiederholt. Dort gab nicht die junge Frau die Perspektive vor, die abtreiben will, sondern deren Freundin. Eine solch radikale Verlagerung eröffnet auch hier der Vorstellungskraft und Empathie des Zuschauers viel größere Räume. Die pathologische Mutter-Sohn-Beziehung weitet sich zur Allegorie auf rumänische Zustände (nicht nur aktuelle, historisch gewachsene), wo ein ganzes Volk durch die Korruption entmündigt wird. Es ist kaum zu ertragen, wenn der Sohn im Wagen verharrt, als die Mutter mit den Angehörigen des Unfallopfers schachern will. Man muss lange warten auf die Katharsis, als er sich endlich durchringt, aus seinem Gefängnis auszubrechen, um den Vater um Verzeihung zu bitten. Man hört kein Wort von dem, was die beiden Männer einander zu sagen haben. Sie verstehen sich zu einer befreienden Geste. Das alles sieht man nur im Rückspiegel, aus dem Blickwinkel der Mutter. Regisseure werden so etwas nicht gern hören, aber das ist eine Drehbuchidee.

Es ist zu wünschen, dass sich deutsche Filmhochschulen von nun an um Razvan Radulescu als Gastdozenten reißen werden. Wie viel hier zu Lande von ihm zu lernen wäre, führt Pia Marais‘ „Layla Fourie“ am Montagnachmittag vor. Auch hier geht es um einen tödlich ausgehenden Verkehrsunfall, aber natürlich aus der Perspektive der Verursacherin. Eine weniger banale Unmittelbarkeit scheint im deutschen Kino momentan nicht denkbar. Wie eng, wie erfahrungsarm dieser dramaturgische Rahmen ist! Mehr als ein fahriges, konfuses Hin und Her lässt er nicht zu. Seit „Gnade“ im letzten Jahr hat die Auswahlkommission offenbar nichts hinzugelernt.

Ärgerlich ist überdies, dass Marais den Beruf ihrer Protagonistin – sie führt Lügendetektortests bei Bewerbungsgesprächen durch – nur als Metapher begreift. Warum sieht man sie nach einer halben Stunde nicht mehr bei dessen Ausübung? Ihr neuer Arbeitgeber muss sehr großzügig sein.

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