Stange im Kopf

Man sieht seltsame Sachen auf der Berlinale. Zufällig kommt man auf der Suche nach Getränken am Pressekonferenzsaal im Pressezentrum vorbei, drinnen gerade die Aussprache über “Iron Lady”, außen eine Menschentraube um den TV-Bildschirm, auf den das Frage-Antwort-Spiel übertragen wird. Und einige der ZuschauerInnen – vier oder fünf – haben ihre Handys gezückt, um Meryl Streep, gerade in Großaufnahme im Monitor, zu fotografieren. Um für die Enkelkinder zu dokumentieren, dass man live dabei war, als Streep zehn Meter entfernt hinter Wand und verschlossener Türe von der Freude am Spiel als Maggie Thatcher zu erzählen.

Anscheinend haben die Leute noch nicht genug Bilder intus und müssen sich per Handy über indirekte Bande weitere mit nach Hause nehmen.

Sie könnten ja auch in Alex de la Iglesias “La Chispa de la Vida” gehen, wo den ganzen Film über eine Menge Schaulustige und Reporter des Satans sich am Leiden eines unglücklichen Verunglückten zu weiden. Der ist ganz doof gestürzt, liegt auf dem Präsentierteller eines antiken Amphitheaters, gerade als Museum frisch eröffnet, und die Welt schaut zu, wie er nicht bewegt, nicht abtransportiert werden kann, wie seine Frau sich sorgt, wie der Arzt sich kümmert.
Nun ist dieser verunglückte Roberto ein Werbefritze, seit Jahren erfolg- und arbeitslos, an dem es sehr nagt, seine Familie nicht ernähren zu können, und den auch nicht seine schöne Frau (Selma Hayek) trösten kann. Also: er, unbeweglich auf dem Rücken liegend, besorgt sich einen Agenten und vermarktet seine Unfallstory, mit Product Placement und dem Verkauf eines Exklusivinterviews will er das Geld zusammenkriegen, das er aus eigener Kraft nie zusammenbekommen würde. Tatsächlich ist ein Sender bereit, 2 Millionen zu zahlen; wenn Robertos Tod garantiert wäre…
Geld und Job fallen Roberto in den Schoß, während er hilflos auf dem Rücken liegt – als er rege war, hat er keine Sau interessiert. Als echter Advertising-Typ kennt er nur den Wert des Geldes, des Geldes, das er nicht verdient – und diese seine Wertlosigkeit will er mit Würdelosigkeit wettmachen.

De la Iglesia schafft es, mit seinen Filmen surreale Welten zu schaffen, die ganz absurd sind, auf böse Art witzig, auf bittere Art ironisch, auf pointierte Art satirisch; und ihnen zugleich eine eigene, wahrhaftige Emotionalität zu verleihen; und ihnen zugleich eine zerebrale Wirkung einzuschreiben, mit einer Krassheit, die sich direkt ins Gehirn hineinbohrt. Das kann völlig verrückt sein – wie zuletzt in “Mad Circus” – oder auf handfestere Thrillerart – wie in “La Comunidad” oder den “Oxford Murders”, ist aber stets schwarz und sardonisch und bei aller Opulenz der Fantasie to the point.

So auch hier, in dieser Neuerzählung von Billy Wilders “Ace in the Hole”/”Reporter des Satans” (auf Wilder verweist auch, dass Robertos einziger großer Werbecoup ein Spruch für “Eins Zwei Drei”-Coca Cola war). Filmgeschichte spielt also auch eine Rolle, in dieser Medienstory, die de la Iglesia zum Äußersten treibt.

Der bisher beste Film der Berlinale. Und es wird sicher kein besserer nachkommen.

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