Unsere kleine Verzweiflung

Eine der viel zu selten besungenen Sternstunden des Hollywoodkinos ist jene Sequenz aus „Adam’s Rib“ (Ehekrieg), in der die Angeklagte Judy Hollyday ihrer Anwältin erzählt, wie es dazu kam, dass sie auf ihren Mann geschossen hat. Kaum einem Zuschauer wird auffallen, dass diese achtminütige Szene in einer einzigen Einstellung gedreht wurde. Holliday ist so übersprudelnd temperamentvoll und Hepburn eine so aufmerksame Zuhörerin, dass man nie auf die Idee käme, auf so etwas wie den Schnitt zu achten. Wer weiß, ob die Einstellung nicht sogar noch länger gedauert hätte, wenn der Kameramann nicht die Filmrolle hätte wechseln müssen?
Mit der digitalen Technik sind derlei inszenatorische Fristverlängerungen längst kein Problem mehr, wie der Anfang des südkoreanischen Wettbewerbsbeitrags „Come Rain, come shine“ demonstriert. Ein Mann bringt seine Frau zum Flughafen. Die Kamera ist auf die Kühlerhaube montiert und protokolliert ein Gespräch, das selbst in dem Moment ereignislos bleibt, als die Frau ihm eröffnet, sie werde ihn verlassen. Sogar einem unaufmerksamen Zuschauer wird womöglich auffallen, dass es in der ganzen Sequenz keinen einzigen Schnitt gibt. Auch wenn der Film später dieses Prinzip des Erzählens in Realzeit ein wenig auflockert – er spielt an dem Tag, an dem die Frau ihre Umzugskartons packen will – stimmt die Plansequenz auf das ein, was nach dem Vorspann folgt: eine apathische Tour de force. Der Regisseur Lee Yoon-ki ist weit geduldiger als seine Heldin, die sich schon nach 20 Sekunden beim Telefongespräch mit ihrer Mutter über die Gesprächspausen beschwert und das Vorhaben, eine Tür zu schließen, nach dem ersten Versuch aufgibt.
Nun ist es gewiss unfair, George Cukors munteren Geschlechterkrieg mit Lee Yoon-kis wehmütig-klinischer Etüde zu vergleichen. Nicht jeder Film muss lebensprall sein. Die Apathie ist zweifellos ein schildernswerter Zustand; wenn auch kein glückliches Stilprinzip. Der Wettbewerb demonstriert, wie modernen Kinofiguren die Handhabe über die eigenen Gefühle und das eigene Schicksal immer mehr abhanden zu kommen scheint. Aber worum geht es noch, wenn an die Stelle von Konflikten höfliche Implosionen treten? Natürlich wird keiner der Umzugskartons gepackt. Und das behauptete Unwetter ist nur ein trister Dauerregen. Angesichts dieses zuvorkommenden Minimalismus‘ darf man sich doch eher der Wehmut von „Lipstikka“ (Odem) anvertrauen, der kaum von der Kritik beachtet wurde. Auch er spielt an einem einzigen Tag, und führt doch unendlich viel tiefer in die Gefühlswelt seiner Charaktere. Ein kurzer Blick in die Augen der Hauptdarstellerin Clara Khoury erzählt mehr von Liebesenttäuschung und Schmerz als es das wohltemperierte digitale Verharren des Südkoreaners in beinahe zwei Stunden vermag.

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