An einem Samstag im April

Eigentlich war ja gar nichts passiert. Ich weiß noch, dass ich meine halbe Kindheit und Jugend erwartet und befürchtet habe, dass es einen Blitz und einen Knall gibt und meine ganze Welt im atomaren Feuer verbrennt. Jeden Samstag, wenn bei uns im Dort die Werkssirenen los heulten, zuckte ich schon als Vorschulkind regelmäßig innerlich zusammen und dachte: “Jetzt ist Krieg!” – um dann ein paar Sekunden später mentale “Entwarnung” zu geben. Kindheit in den 70er- und 80er-Jahren …

Und dann, irgendwann Ende April 1986, ist dann doch etwas passiert. Man hat nichts gehört, nichts gesehen – und wie es in Warnungen vor radioaktiver Strahlung immer so schön heißt “nichts geschmeckt und nichts gerochen” -, aber irgendwie hatte es doch eine gefährliche Atomexplosion gegeben, die auch mich 14-jährigen Burschen betroffen hat. Zweitausend Kilometer entfernt von meinem Heimatort, in Tschernobyl, war ein Reaktorblock explodiert und hatte radioaktiven Staub über ganz Europa geblasen. Die Namen der Isotope Strontium-90 und Caesium-137 haben sich mir ins Gedächtnis gebrannt – und die Elemente selbst wahrscheinlich in meine Knochen und meine Schilddrüse.

Neben den Fernsehnachrichten über das “Reaktorunglück in Tschernobyl” (so hieß damals der durch stümperhafte Vorbereitungen eines Reaktor-Abschaltexperimentes hervorgerufene Super-GAU) gab es nur drei Hinweise: Auf dem Spielplatz in der Nähe meiner Wohnung stand auf einmal ein Schild, dass dieser Spielplatz aus Sicherheitsgründen bis auf weiteres nicht benutzt werden sollte. Im Gras und im Sand hatte sich der Staub aus Tschernobyl abgesetzt. Selbst gepflückte Pilze aus dem Wald sollten nicht mehr verzehrt werden. Und es wurde auf einmal empfohlen, Jod-Tabletten einzunehmen, damit man keinen Schilddrüsen-Krebs bekommt. Pilze habe ich sowieso nie selbst gepflückt, aber seit dem ist mir das noch verdächtiger geworden -, Jod-Tabletten habe ich damals auch nicht genommen – meine Mutter, die die hätte kaufen müssen, wusste wahrscheinlich gar nichts davon. Aber den Spielplatz nicht zu benutzen hatte mich direkt betroffen: Auf dem hat sich nämlich regelmäßig meine damalige Clique getroffen. Wir bleiben fortan lieber in unseren sichere(re)n Wohnungen.

Also war doch etwas passiert. Aber etwas, das mehr so etwas wie eine Informationskatastrophe gewesen ist: Man wusste auf einmal Sachen, die das Leben oder zumindest die Gesundheit bedrohten. Darüber konnte man aber so lange hinwegsehen, wie man nicht mit den Informationen und Bildern konfrontiert wurde. Neben dem Reaktorkern in Tschernobyl war überall in Europa das unschuldige Gefühl “durchgebrannt”, dass sich in der freien Natur aufzuhalten, gut sei. Es gab im Leben selbst des damals 15-jährige Stefan auf einmal so ein “Hintergrundgeräusch”, das sich bei genauem Hinhören nicht wie eine heulende Sirene sondern wie ein klickender Geigerzähler anhörte. Immer hatte ich diese kurze Sequenz (ab 1 Minute 30) aus “The Day After” im Kopf, in der Steve Guttenberg dem schreienden Mädchen, das aus dem Elterlichen Keller geflüchtet ist, raus in die atomverstrahlte Welt nachläuft und ihr zuruft, dass es gefährlich ist, draußen zu sein: “Du kann es nicht sehen, nicht fühlen und du kannst es nicht schmecken – aber es ist da, genau in diesem Moment, überall um uns herum und geht durch dich wie Röntgenstrahlung hindurch …” Und es bringt dich um.

Und genau dieses Lebensgefühl, dieses unterschwellige Gefahrenbewusstsein, und diese gleichzeitige notwendige Ablenkung von all dem durch das provozierte Blicken in die entgegengesetzte Richtung, die Tatsache, dass man sich später immer fragen musste, welchen Einfluss der Super-GAU auf das eigene Leben genommen hat: Davon handelt “V Subbotu” – davon handelt er nicht nur, das lässt er seinen Zuschauer spüren. Immer nah mit der Handkamera am Gesicht der Protagonisten: Schau in die Augen deiner Freunde und nicht zum schwelenden Reaktor! Immer wieder der ver(w)irrte Blick Valerijs, seine Versuche das Ges(ch)ehene zu vergessen und doch beim Blick über die Schulter das warme orange Glühen am Himmel, das vom brennenden Reaktor-Block 4 ausgeht.

Und wenn dann ganz wenige Male der filmische Blick auf das dann übergroße, explodierte Reaktorgebäude freigegeben ist, dann ist das wie ein Informations-Schock und dann beginnt die dumpfe Unruhe im Zuschauer ebenfalls zu wieder zu einem brennenden Bewusstsein zu werden – zu dem Gefühl, das ich als Kind hatte, wenn Samstags die Sirenen geheult haben.

Über Stefan Hoeltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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